Die Schlüsselblume
Endlich sind sie vorbei, die tristen Wintertage, und wir freuen uns sehr darüber, denn wir sind Kinder des Frühlings. Jedes Jahr aufs Neue können wir es kaum erwarten, den Blumenreigen im Frühjahr mit eröffnen zu dürfen. Dann erstrahlt unser leuchtendes Gelb wieder und gibt euch Menschen die Zuversicht, dass die Farbenpracht der Natur nun neu erwacht.
Doch ehe es so weit ist, tasten wir uns erst einmal ganz vorsichtig aus unserem Winterversteck hervor. Unsere Blätter sind die Vorboten, die erst einmal auskundschaften, ob der Frühling schon so weit ins Land gezogen ist, dass wir unseren Winterschlaf unter der Erde beenden sollten. Unsere Blätter haben wir vorsorglich in einen leichten flauschigen Pelz gehüllt, damit sie durchhalten, wenn die Temperaturen noch ziemlich frostig sind.
Sie lassen sich deshalb nicht so leicht abschrecken und legen sich als Rosette flach auf den Boden, damit raue Winde über sie hinwegfegen. Somit bereiten sie unseren Blütenknospen ein kuscheliges Nest, aus dessen Mitte diese dann langsam emporwachsen können.
Ich, die Hohe Schlüsselblume, wohne sehr gern in Laubwäldern oder an deren Rand, ebenso auf feuchten Wiesen und an Bachläufen, wo ich es sehr romantisch finde und meine hellen Blüten besonders schön zur Geltung kommen. Ich, die Echte Schlüsselblume, mag es allerdings gern trockener und sonniger. Mittlerweile fühlen wir beide uns auch in euren Gärten recht wohl.
Manchmal kommen wir dann einfach so zu euch und danken für die Aufnahme mit reichlich Nachkommen, die im Frühling eure Blumenbeete mit vielen dicken gelben Farbtupfern schmücken, denn in großer Gesellschaft fühlen wir uns besonders wohl. In der Blütenfarbe unterscheiden wir uns etwas voneinander.
Ich, die Echte Schlüsselblume, bin wohl etwas eitler und färbe meine stark duftenden Blüten gern dottergelb bis zu einem hellen Orange und habe auch orangefarbene Punkte in meinem Blütenkelch, während meine etwas höhere Schwester gern ein schlichtes, hellgelbes Blütenkleid trägt, das kaum duftet, ihr aber auch ausgezeichnet steht.
Beide werden wir gern von Hummeln, Bienen und Schmetterlingen besucht, die unseren Nektar sehr schätzen. Habt auch ihr schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Besuch auch ziemlich dreist sein kann, wenn er nicht gleich bekommt, was er will? Stellt euch vor: Die Bienen, für die es schwierig ist, bis tief in unsere Blüten zu gelangen, beißen dann manch‐ mal einfach von außen unsere Blütenröhren auf und bedienen sich, indem sie aus dem unteren Teil unserer Blüten den Nektar saugen.
Das könnte man doch wirklich schon als Einbruch, zumindest aber als Sachbeschädigung oder auch Hausfriedensbruch bezeichnen. Nun, da der Schaden für uns nicht allzu groß ist, wollen wir dieses Delikt, wie immer man es auch nennen mag, nicht weiter verfolgen, denn wir haben ein Nachsehen mit den Bienen. Die sind im Frühjahr, wenn das Nahrungsangebot noch nicht so üppig ist, besonders hungrig und möchten sich dann auch gern in unserer Speisekammer bedienen, obwohl sie für den rechtmäßigen Zugang etwas zu groß geraten sind.
Aber sie wissen sich zu helfen und haben einen doch ziemlich ungewöhnlichen Weg gefunden. Sollten wir noch nicht bei euch zu Gast sein, und ihr möchtet uns gern in eurem Garten ansiedeln, dann wisst ihr ja nun, was unsere bevorzug‐ ten Standorte sind. Dort werden wir euch dann sehr viel Freude bereiten.
Ja, und was wir auch noch sagen wollten: Wusstet ihr, dass wir Blumen unsere eigene Sprache haben? Wir, die Schlüsselblumen, stehen u. a. für die Kindheit, für Versonnenheit und Vertrauen. Wir sagen euch auch: »Die Zufriedenheit ist das höchste Glück« und »Gib mir den Schlüssel zu deinem Herzen«. Sind das nicht schöne Botschaften, die wir euch da überbringen? Und wie es bei den Menschen mit der Namensgebung oft ist, so ist es auch bei uns. Wir haben nicht nur einen Namen, nein, allgemein nennt man uns auch Primel oder Himmelsschlüssel. Manchmal werden wir auch »Osterblume« genannt, obwohl dieser Name in vielen Gegenden Deutschlands wohl zur Narzisse gehört. Aber da auch wir zur Osterzeit blühen, haben wir gegen diese Bezeichnung nichts einzuwenden. Und all diese Namen haben auch ihren Sinn und ihre Bedeutung: Primel wurde abgeleitet von ›Primula‹, also die Erste.
Wenn ihr euch meine Blühzeit im Jahreskreislauf anseht, dann sind wir das ja auch – mit die Ersten. Mit der Bezeichnung »Himmelsschlüssel« hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Zum einen heißen wir wohl so, weil unsere Blüte einem Hohlschlüssel, wie es ihn früher gab, gleicht, zum anderen aber auch, weil der Blütenbund einem Schlüsselbund sehr ähnlich ist.
Ganz besonders stolz sind wir natürlich darauf, dass wir auch in Göttersagen vorkommen. Für die Germanen waren unsere Blüten die Schlüssel der Göttin Freya, die damit das Himmelstor aufschließt, um den Frühling auf die Erde zu lassen. Während der Christianisierung musste die Göttin die Schlüssel allerdings an den Heiligen Petrus abgeben. Leider ließ er diese vor Schreck fallen, als der Satan eines Tages persönlich vor der Himmelspforte stand und hereingelassen werden wollte. Die Schlüssel fielen bis zur Erde hinunter und verwandelten sich dort in Schlüsselblumen.
Darüber hinaus brachten die Germanen uns mit Elfen und Nixen in Verbindung, je nach unserem Standort. Die Nixen gehören ja zum Wasser, also sind sie bei mir, der Hohen Schlüsselblume, denn ich liebe ein eher feuchtes Zuhause. Irgendwo in meiner Nähe findet sich meist ein Bach oder ein kleiner Wasserlauf, wo die Nixen ihr Zuhause haben. Die Elfen dagegen sind Luftwesen und tummeln sich bei der Echten Schlüsselblume, die sich gern sonnt und auf trockenem Boden wohnen möchte.