Im Raum der Möglichkeiten

Bei der Lesung

»Bewusstheit ist der Schüssel, Dankbarkeit der Motor und Liebe das Ziel.« Wieder einmal endete die Lesung mit diesem Zitat aus meinem Buch.

Langsam schaute ich auf und sah das Publikum an. Irgendwo begann jemand zu klatschen und dann folgten alle. Ich stand artig auf und bedankte mich. Geduldig wartete ich, bis der Applaus verebbte.

»So, wer gerne möchte, kann jetzt Fragen stellen. Ich schau mal, ob ich sie Ihnen beantworten kann …«

Ein paar Leute aus der ersten Reihe lachten mich an. Eine Dame mit wunderschönen Haaren hob zögernd die Hand.

»Ja, bitte? Und keine Angst, ich beiße nicht …«

Auch sie lachte jetzt. Freundlich, mit fester Stimme fragte sie mich: »Ist das, was Sie da geschrieben haben, eigentlich autobiografisch? Es klingt so, als ob Sie es selbst erlebt hätten und als Sie gerade vorlasen, waren Sie an einigen Stellen sehr gerührt. Das wäre für mich jetzt ein eindeutiges Zeichen, dass Sie es gut nachvollziehen können …«

Bingo, dachte ich, wieder mal die Frage nach der Autobiografie. Jeder wollte wissen, ob ich das nun wirklich selbst bin, diese Romanfigur, oder ob sie nur erfunden ist.

Ich schaute der Fragestellerin direkt in die Augen und sagte dann: »Sie haben schon recht. Das meiste, was in diesem Roman vorkommt, habe ich wirklich erlebt. Auch die Geschichten, die vermeintlich nicht so schön sind. Die Rahmenhandlung ist dann dazugedichtet.« Dabei malte ich kleine Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft. »Wobei da auch wiederum einiges aus meinem Leben mit einfließt. Aber viele Figuren sind einfach frei erfunden …« Ich lächelte die Dame mit der Löwenmähne an und stellte fest, dass sie mit dieser Antwort zufrieden war.

Jetzt müsste eigentlich die Frage nach Peter kommen, einem meiner Protagonisten …

Und schon ging wieder eine Hand hoch: Eine Frau um die vierzig, chic gekleidet, dezent geschminkt, sehr elegant, erhob sich und stellte dann ihre Frage: »Sagen Sie mal, ist dieser Peter auch autobiografisch oder ist der frei erfunden?«

Da war sie, so wie ich es erwartet hatte. Ich kicherte ein wenig: »Das war mir klar, dass dies die nächste Frage sein würde.« Ich zwinkerte ihr zu. »Nein, Peter gibt es so nicht in meinem wirklichen Leben, aber irgendwie habe ich da offensichtlich den Nerv der Frauen getroffen. Anscheinend wünscht sich jede so einen Peter. Er ist ja auch besonders toll: einfühlsam, naturverbunden, gut aussehend, alleinerziehender Vater, also ein Mann, der Sorge trägt für das Wohl anderer und – sozusagen als kleiner Kick obendrauf – er ist ein bisschen frech … Glauben Sie mir, Sie sind nicht die Erste, die nach Peter fragt.«

Etwas verlegen setzte sich die Dame wieder hin. »Schade«, sagte sie dann, »ich hätte gerne seine Telefonnummer gehabt …«

Ich lachte sie an: »Ich wünsche Ihnen einen von diesen Prachtkerlen des Lebens. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Ihren eigenen Peter!«

Jetzt lachten alle im Raum. So liebte ich das, völlig locker, im Plauderton mit dem Publikum.

Dann stand ein Mann auf, groß, kräftig wie ein Bär. Mit tiefer Stimme fragte er: »Ich habe auch Ihr Handbuch zum Lebensmosaik gelesen, können Sie einmal erklären, was das mit dem Raum der Möglichkeiten auf sich hat? Das würde ich sehr gerne einmal genauer wissen …« Er blickte mich erwartungsvoll an.

Das war aber einmal eine besondere Frage und, wie ich innerlich lächelnd feststellte, eine wichtige noch dazu. »Oh, natürlich, gerne!« Ich holte tief Luft. »Der Raum der Möglichkeiten ist eine geführte Meditation, in der man quasi unmittelbaren Kontakt mit seinen unbewussten Anteilen aufnehmen kann. Hier erhält man alle Informationen, die man momentan benötigt, um weiter seinen eigenen Weg zu gehen. Man lernt auch, dass hinter dem vermeintlich Negativen eigentlich nur eins steckt: eine wertvolle Information! Wir wissen ja: Alles trägt auch immer ein großartiges Geschenk in sich.«

Ein kleines Raunen ging durch die Zuhörerschaft.

»Natürlich«, fuhr ich unbeirrt fort, »muss man dies auch erkennen und dann annehmen wollen … können … dürfen.« Dies war ein Wortspiel, um all denjenigen gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, die bei der kleinsten Erwähnung des Wortes muss sofort lautstark protestierten. »Aber wer es sehen kann, der verändert dadurch meist die Perspektive, von der aus man die Dinge, die Muster, die alten Dramen betrachtet.«

Der Bär fragte schnell dazwischen: »Ja, aber wie machen Sie das? Sie führen die Menschen in bestimmte Räume? Und geben Sie dann vor, was sie da erwartet?«

Ich schmunzelte: »Ich mache in den Räumen keine Vorgaben, ich führe die Menschen nur bis vor die, meist selbst gewählte, Tür oder den Schleier oder was auch immer sie da kreiert haben als Abgrenzung zu den einzelnen Räumen.« Ich wandte mich dem Mann direkt zu und schaute ihm tief in die Augen: »Wissen Sie, wenn ich die Vorgaben machen würde, dann wäre das ja mein Raum und nicht der des Menschen, der dort seine Antworten sucht. Jeder hat dort seine eigene Gestaltung, weil jeder ganz individuell ist, verstehen Sie?«

Der Mann nickte.

»Manchmal führe ich zu bestimmten Übungen in ganz besondere Räume, die heißen dann Raum der Heilung, für Menschen, die gerade an einer bestimmten Krankheit laborieren, oder Raum der Beziehung, für Menschen, die einfach nicht begreifen können, was momentan los ist in ihrer Partnerschaft. Oder auch für solche, die schon lange allein leben und nicht verstehen können wieso. Ein ganz besonderer Raum ist auch der Raum des Herzens, hier begegnen ganz viele Teilnehmer oft ausgerechnet den Menschen, die sie niemals in ihrem Herzen vermuten würden. Das ist dann ein besonders großes Geschenk für den Einzelnen. Manche begreifen sofort, dass die Schwierigkeiten, die man mit diesem Menschen in der sogenannten Realität hat, eigentlich nur dazu da sind, um sie auf eine ganz besonders stark wirkende Energie aufmerksam zu machen – und vielleicht umzukehren, von diesem eingefahrenen Pfad. Der ganze Widerstand ist nicht dazu gedacht, sie zu verletzen, sondern sie wieder in Liebe auf den für sie richtigen Weg zu bringen. Ansonsten würde dieser Mensch, der ihnen da in ihrem Raum des Herzens begegnet, niemals dort sein! Das endet oft in derart tiefer Berührtheit und Verstehen, dass es mir nach all den Jahren, in denen ich mit diesem Instrument arbeite, immer noch die Tränen in die Augen treibt.« Ich lachte auf. »Ich würde sogar behaupten, es wird immer schlimmer …«

Das Publikum lachte und der Bärenmann setzte sich und murmelte fast unhörbar ein »Dankeschön« vor sich hin.

Irgendwo aus der Zuhörermenge drang die Frage nach vorne: »Können Sie uns das nicht einmal demonstrieren?«

Ich schaute ein wenig irritiert und versuchte, die Fragende auszumachen.

Eine weitere weibliche Stimme rief: »Oh ja, bitte, würden Sie das machen? Wir wären alle gespannt, wie das geht!«

Ich versuchte abzuwiegeln: »Das Ganze dauert fast eine Stunde und würde damit den Rahmen dieser Lesung deutlich sprengen. Es handelt sich hier um eine Tiefentrance, und die mache ich im Gehen, dafür braucht man Platz. Außerdem weiß ich ja nicht, ob jeder dazu bereit ist …«

Aber es wurden immer mehr Stimmen, die darum baten. Was sollte ich nur tun? So etwas hatte ich noch nie außerhalb meiner Seminare gemacht. Es waren ja auch zu viele Menschen im Raum und ich hatte niemanden dabei, der mit darauf achten konnte, dass sie sich während der Meditation nicht anrempelten. In meinen Seminaren habe ich höchsten 20 Teilnehmer und dann noch ein, zwei Begleiter, die genau wissen, was zu tun ist. Hier in diesem Saal waren mehr als 100 Personen.

Aber die Bitten ließen nicht nach.

»Sie können diese Meditation auch auf CD kaufen, ich habe sie dabei«, war mein letzter Versuch, diesem Massenexperiment zu entrinnen.

Es half alles nichts: »Wenn wir Sie schon einmal hier haben, dann wäre es doch super, wenn Sie uns das persönlich erfahren lassen!« Und: »Wir helfen auch beim Wegräumen der Stühle …« Und das taten sie dann auch sogleich.

Ich war völlig überrumpelt. Aber dann entschied ich mich etwas Struktur in die ganze Sache zu bringen und rief laut in den Raum: »Okay, okay, Sie haben mich überzeugt. Bitte stellen Sie alle Stühle so an die Seite, dass keiner darüber stolpern kann. Wer gern sitzen möchte, der setzt sich bitte bequem hin, wer tigern möchte, bleibt in der Mitte stehen.«

»Tigern? Was ist das?«, fragte eine junge Frau, die mich dabei neugierig ansah.

»Das ist eine Art meditatives Gehen, ganz langsam, und wenn es geht, mit geschlossenen Augen, trotzdem immer achtsam auch auf die anderen Menschen hier im Saal achtend, damit es zu keinen Zusammenstößen kommt«, war meine Antwort. »Wer während der Meditation spürt, er möchte lieber sitzen oder gar liegen, der soll das bitte völlig eigenständig tun.«